Es gibt Tage...

... da sollte man im Bett bleiben


Was für ein Scheißtag. Endlich ist der geschafft und vorbei. Erschöpft nahm Samira auf einem freien Sitzplatz in der Bahn Platz. In einer halben Stunde sollte sie zu Hause sein. Zwar ist ihr Freund gerade auf einer wichtigen Geschäftsreise im Ausland, aber wenigstens hat sie dann etwas Zeit für sich. Nach so einem Tag brauchte sie das auch. Sie wird sich ein Glas Wein einschenken, in die tollen teuren Gläser. Alleine der Gedanke an diese schönen, runden, hohen Kelche in dem sich robinrot der Rebensaft hin und her bewegt und sich an die ausgeprägte Wölbung schmiegt, beflügelte sie. Dessen nicht genug, wird es heute ein Entspannungsbad mit viel Schaum, ruhiger Musik und Kerzenschein geben. Dazu den leckeren Alkohol...
Samira schwelgt mittlerweile so in diesem Gedanken, dass sie gar nicht bemerkt, wie der Zug sich in Bewegung setzt. Sie ist mit ihren Sinnen bereits in der Wanne, wohlig warm, angenehm, entspannt.
Erst als das Schienenfahrzeug mit einem heftigen Ruck die Fahrt unsanft verlangsamt wird Samira aus ihrem Traum gerissen. "Hoppa!" tönt es ihr vom gegenüberliegenden Sitzplatz entgegen. Ihr Telefon war ihr bei dem unerwarteten Stop aus der Hand gefallen, am Boden gelandet und unter den Sitz ihres Gegenübers gerutscht. Sie bückte sich schnell um es wieder aufzuheben. Der nächste Blick galt sofort dem Display. Gott sei Dank, es ist noch heil.
Samira musterte erst jetzt den Herren, unter dessen Sitz das Handy gefallen war. Es war offenbar ein Bauarbeiter. Dies verrieten die verschmutzte Hose, das dreckige Shirt und das Maurerhütchen welches er in Händen hielt und herumspielte, faltete und einrollte. Außerdem hatte er Schuhe an, die offenbar eine Stahlkappe unter der Schuhspitze hatten. Besonders ansprechend war der Duft des stoppelgesichtigen Herren nicht. Sie konnte auch die beachtlichen Schweißflecken am Shirt unter den Achseln erkennen. Wäre auch eine Kunst gewesen, diese nicht zu sehen. Immerhin gingen sie ihm beinahe bis auf Höhe der Ellenbogen. Das weiße Shirt war im Bauchbereich deutlich kugelig geformt und hatte bestimmt auch schon eimal bessere Tage gesehen. Es scheint, als wären lauter Erd- und Betonflecken daran gewesen. Samira dachte sich, dass der Arbeiter dieses Shirt nach der Arbeit irgendwo bei sich zu Hause in eine Ecke stellen würde. Durch diesen Gedanken musste sie lächeln, achtete aber darauf, nicht den Werktätigen anzusehen. Das hätte bestimmt zu Missverständnissen geführt.
Sie fühlte sich in dem kleinen 4er Abteil auf einmal recht seltsam. Die beiden besetzten es zwar alleine, aber sie saß top gestylt da und gegenüber diese schmutzige, verschwitzte Erscheinung. Samira trug eine weite schwarze Stoffhose die ab den Waden leicht ausgestellt war. Das war hervorragend, denn so kam beim Gehen immer ein kleiner Luftzug von den Zehen zu den Waden, was bei diesen Temperaturen hervorragend kühlte. An den Füßen trug sie adrette Sandaletten aus schwaz weißen Nappaleder. Das sah in ihren Augen großartig aus. Als hätte man winzige Zebras an den Füßen. Die Höhe der Absätze ware gereadezu perfekt gewählt. Passend für's Büro, aber dennoch sexy, wenn auch nicht zu aufreizend. Es war ihr sehr wichtig, nicht billig oder gar nuttig zu erscheinen. Darum waren diese Schuhe ganz penibel ausgesucht worden. Mit einem Maßband stand Samira damals im Geschäft, probierte die verschiedensten Modelle an. Der Spiegel, den die junge Frau stets zur Kontrolle benutzte, wurde beinahe schon blind vor lauter Abnutzung. Aber kurz vor Ladenschluss hatte sie endlich dieses Meisterwerk der Sandalettenkust entdeckt und erworben.
Dadurch die ledernen Sommertreter mit ganz zarten Riemchen aber zweifärbig waren, musste im Kontrast zu der schwarzen Stoffhose etwas Helles an den Oberkörper. Was passte da besser als eine weiße Sommerbluse? Und genau so ein Oberteil schmiegte sich um Samiras Schulter, ging in einen angemessenen V-Ausschnitt über und flatterte ein wenig über ihrem Bauch und den Hüften. Schön luftig war ihr V-Chiffon. Mit den nahezu schwarzen Haaren, in Wahrheit hatte ihre Haarpracht einen ausgesprochen dunklen Braunton, sah das ganze Outfit einfach nur vollkommen aus. Als kleinen Farbakzent ließ es sich Samira nicht nehmen, eine knallrote Handtasche zu tragen. Und das auch nocht in glänzenden Lack. Abgerundet wurde ihr Erscheinungsbild mit einer großen Sonnenbrille die sie auf ihre Stubsnase gesetzt hatte. Sie selbst fand ihren Auftritt atemberaubend.
Was der stinkende Bauarbeiter von gegenüber dachte, das lag auch auf der Hand. Er musterte sie bereits die ganze Zeit von oben bis unten und lächelte sie durchgehend an.
 
Die Stehzeit der Bahn belief sich mittlerweile auf mehr als 10 Minuten. Was war denn da los? Die junge Frau rutschte einen Platz hinüber ans Fenster und warf einen Blick hinaus, in der Hoffnung den Grund für diese Störung zu erspähen. Nichts zu sehen.
"Hehehe... Kaputt ist." lächelte der Stinker, scheinbar slawischer Herkunft. "Geht nix. Hehehe... nix gut. Kommen spät zu Hause. Hehehe. Essen kalt, Frau schimpfen..."
Um den armen Herren nicht zu kränken schenkte Samira ihm ein Lächeln und eine zustimmende Geste. Ihrer Meinung nach hatte er diesen kleinen Lohn auch verdient. Er war bestimmt knappe 60 Jahre alt, die wenigen verbliebenen Haare auf seinem Haupt zu kurzen, grauen Stoppeln gestutzt, verziert mit Schweißperlen. Und das, obwohl es hier im Zug aufgrund der Klimaanlage wirklich ziemlich kalt war. Jedoch dürfte der Opa ein sehr fleißiger Mensch sein. Immerhin arbeitete er offensichtlich noch am Bau. Und das ist Schwerstarbeit. Das und seine freundlich verlegene Art, machten ihn sympathisch.
 
"Sehr geehrte Fahrgäste, die Bahngesellschaft entschuldigt sich für die Verzögerung. Es gibt eine kleine technische Störung. Wir werden unsere Fahrt in Kürze fortsetzen." nuschelte es heiser aus den Lautsprechern. Da hatte der Zugführer aber eine tolle Idee gehabt, dies bereits nach zehn Minuten kund zu tun, dachte Samira zynisch.
"Eisebann kaputt... hehehe. Mussa reparien, sonst nix fahren..." kommentierte der immer noch lächelnde Mann. Wieder nickte ihm die junge Dame wohlwollend und bejahend zu. Sie fand es sehr schön, jemanden mit solchen kleinen Gesten eine Freude machen zu können. Jedoch wollte sie es nicht übertreiben, da die Gefahr bestand, dass der Herr sonst übermütig werden könnte und sie sich dann noch mit ihm unterhalten müsste. Sie seuftze, als müsste sich sich angestrengt entspannen, nahm ihre Kopfhörer aus der roten Tasche, stöpselte diese in ihr Telefon und startete ihre Playlist. Samira schaute an die Wand gegenüber, lauschte ihrer Lieblingsmusik und gerit wieder in Tagträume von brennenden Badewannen voller Alkohol. Zugegeben, der Traum brauchte noch ein Wenig um die richtige Form zu erhalten.
 
Endlich, nach etwa 25 Minuten setzte sich die Eisenbahn wieder langsam in Bewegung. Zeit wurde es. Der Arbeiter von schräg vis a vis hob lächelnd die Hände und lies sie zurück auf seinen Schoß fallen. Die Geste bedeutete vermutlich etwas wie: "Danke Herr!". Oh holde Erlösung. Bald sollte diese Bahnfahrt auch vorbei sein. Die Schwierigkeiten des Arbeitstags alleine hätte schon für drei Tage gereicht. Aber nun sollte es ja bald ein Ende haben.
Der Zug fuhr in die nächste Station ein. Als Bahnhof konnte man diesen Perron beim besten Willen nicht bezeichnen.
Moment mal... was steht da für eine Ortschaft an der Tafel?! "Hermannstetten" Wo zum Geier sollte denn das sein? Nervös von der Tatsache, dass sie keine Ahnung hatte wo sie war, riss sie sich ihre Kopfhörer aus den Ohren und hörte schon die Stimme des alten Slawen: "Hehehe... Hermannschetetten... Mussu aussteige?"
Verdammter Mist. Nichts wie raus aus dem Zug. Samira schnappte ihre rote Tasche, schoss empor und hastete aus dem Waggon auf den Bahnsteig. Dort sah sie sich erstmal um. Wo war sie denn hier gelandet? War sie, ohne es zu wissen, bereits über der Grenze? War sie noch in ihrem Heimatland? War sie noch in ihrer Heimatstadt?
"Ruhe bewahren, Samira. Erstmal nach Infobildschirmen suchen." ermahnte die Frau sich selbst. Aber weder links noch rechts war irgendetwas Informatives zu entdecken. Hinter ihr schlossen sich die Türen der Garnitur, bevor diese aus der Station ausfuhr.
Alles was Samira hier ausmachen konnte war ein Bahnsteig in sehr schlechtem Zustand. Der Asphalt auf der Plattform war bereits aufgebrochen und verstreute sich in From von kleinen Steinchen überall hin. Die Stützen, auf denen ein Flugdach montiert war, waren rostig. Nur noch ganz wenig von der grünen Farbe war übrig. Rund um die Haltestelle war nichts von Zivilisation zu erkennen. Nur verdorte Büsche und braune Wiesen. Halb zerfallene Sitzbänke, überquillende Müllbehälter und ein überbleibsel eines Zaunes waren die einzigen Anzeichen von einstiger menschlicher Anwesenheit gewesen.
Am Liebsten hätte sie losgeheult. Wo war sie nur? Sie spürte ein großes Unbehagen aufkeimen. So wie sie es als Kind bekam, wenn sie etwas ausgefressen hatte und es nicht verheimlichen konnte. Ihre Augen wurden schwer und sie stand merklich kurz vor einem Tränenausbruch. Ihr Kinn begann bereits zu zittern. Das beste Indiz für einen bevorstehenden Heulkrampf. Nichts da, dachte Samira bei sich. Immerhin ist sie eine 35 jährige Frau. Sie wird doch wissen, was zu tun ist.
Sie blickte sich noch einmal um. Dieses Kosntrukt da drüben sollte offenbar den Ausgang von dieser gespenstischen Lokalität darstellen.
Als sie über den schlechten Beton des Steiges zu dem Ausweg stöckelte, kam ihr eine ganz Spezielle Melodie in den Sinn.
 
Vor ihr tat sich die Prärie auf. Mit schweren Schritten schleppt sich Sammy Sue durch den Sand zu der kleinen Stadt in der Ferne. Die Augen zu schmalen Schlitzen gepresst konnte sie den Ort mit den hohen Holzfassaden halbwegs erkennen. Der Wind wirbelte immer wieder Sand auf. Ein Glück, dass sie ihr Tuch dabei hatte, das sie sich bereits vor den Mund gebunden hatte. Die Sporen an ihren mit Sand gefüllten Stiefel klirrten bei jedem Tritt. Die Sonne brannte erbarmungslos auf ihren verschmutzen und löchrigen Hut. Der Durst würde sie umbringen. Bald hätte Sie die Stadt erreicht, wo im Saloon bestimmt ein Glas Whiskey auf sie wartete. Sammy Sue hob wieder ihren Blick. Wie weit war es noch? Der Wind bließ eine kleine Gruppe von Steppenläufern über die Prärie. Sobald sie die Stadt erreicht hatte und die ersten vier Gläser Whiskey im Magen hatte, würde der Sheriff über ihr Problem mit dem gestohlenen Pferd informiert werden. Der soll es wieder auftreiben. Die Chancen, durch die Wüste wieder nach Hause zu kommen, stünden sonst bei Null. Ihr Pistolengurt wog schwer an ihrer Hüfte, doch ohne ihn hätte sie nicht nur ihr Pferd, sondern auch ihr Leben verloren. Zwei von den drei Banditen konnte niemand mehr helfen, außer vielleicht ein Prister. Wenigstens hatte sie den Toten noch sieben Doller abnehmen können. Genug für die nächsten Tage. Aber ohne ihr Pferd würde sie dieses Geld auch nicht nach Hause bringen können. Erbarmungslos brannte die Sonne auf den staubigen Steppenboden der Sammy Sue früher oder später in die Stadt führen sollte.
 
So, endlich am Ende dieses Parkours angekommen. Für Stöckelschuhe ist dieser Weg nicht geeignet. Eindeutig nicht. Samira taten nach diesen wenigen Metern bereits die Knöchel weh. Sie war sich sicher, hier irgendwo muss es doch einen Infoscreen geben. Irgendwo musste man ja erfahren, wann hier Züge vorbeikommen und anhalten. Kein Infoscreen weit und breit. Vielleicht eine Tafel? Nein. Ein Fahrplan auf Papier? Fehlanzeige...
Verflucht noch eins!!! Wieder war die Frau kurz davor in Tränen auszubrechen. "Nein, nicht mir mir! Ich bin kein Kind mehr. Ich handle wie eine erwachsene, starke, selbstbewusste Frau! Mich kann man nicht so einfach aufhalten!" Entschlossen fasste sie in ihre rote Lacktasche, griff nach ihrem Handy und wählte eine Nummer.
"Hallo Schatz, ich kenn mich nicht aus. Ich hab keine Ahnung wo ich bin", schluchzte sie in den Apparat, "Weißt du, ob Hermannstetten noch in unserer Heimatstadt liegt? Ich bin hier am Banhof gelandet, wenn man das überhaupt Bahnhof nennen kann, und weiß nicht weiter wo ich..."
"Äh, Schatz, ich bin in Hallwegerstadt auf Auslandsreise. Ich kann dir da leider überhaupt nicht helfen." kam die Antwort aus dem Lautsprecher.
Nach einem kurzen Gespräch, in dem ihr Freund Samira beruhigen konnte, legte sie wieder auf.
Den Tipp von ihrem Freund, im Internet nachzusehen, hätte die verzweifelte Dame nicht gebraucht. So schlau wäre sie auch ohne ihn gewesen. Nach einer raschen Eingabe und kurzer Recherche fand sie tatsächlich Informationen und Zugfahrpläne zu diesem verlassenen Ort...
Na toll. 35 Minuten bis der nächste Zug kommt. Darauf hatte Samira nun wirklich keine Lust mehr gehabt und tippte in die Internetsuche "Taxiunternehmen in der Nähe" ein. Nachdem es nur zwei Mal geleutet hatte, ging bereits jemand dran: "Taxiunternehmen Sparfahrt, Sie sprechen mit Tamara Führer, was kann ich für Sie tun?"
"Ja, äh... ich brauche bitte ein Taxi hier beim Bahnsteig von, äh... Hermannstetten." bat Samira die freundliche Stimme am anderen Ende der Leitung.
"Das ist gar kein Problem. Der Fahrer wird in zirka 20 Minuten bei Ihnen sein." bestätigte Tamara und legte prompt auf.
Na hervorragend. 20 Minuten und die dumme Kuh vom Taxiunternehmen hatte nichtmal gewartet, ob der Fehrer jetzt tatsächlich kommen soll, oder nicht. Na was solls, dann eben 20 Minuten warten und mit dem Taxi nach Hause fahren.
Bereits nach 15 Minuten trudelte die Droschke ein. Samira nahm erschöpf am Rücksitz Platz und gab dem Chauffeur die anzufahrende Adresse. Den Wein heute am Abend hatte sie sich nach dieser Odysee mehr als verdient. Ein Glas wird da garnicht reichen.
 
Erleichtert, dass dieser verrückte Tag endlich zu einem Ende kommen würde, begann sie mit dem Fahrer zu sprechen. Sie erzählte und erzählte, alles was ihr an diesem Tag widerfahren war. Die blöden Kollegen in der Arbeit, die unsinnigen Abläufe, das eklige Essen in der Kantine, die kaputte Kaffeemaschine und das verstopfte Klo. Ihre Ausführungen machten auch vor ihrer Zug-Geschichte nicht halt. Sie war froh diese Dinge endlich jemanden erzählen zu können.
Als ihr Wortschwall endlich mal eine Pause zu machen schien, eigentlich hatte Samira nur kurz Luft geholt, schaute der Fahrer mit einem nicht ganz eindeutig zuordenbaren Blick in den Rückspiegel und sagte: "Sorry, Ma'am. I'm not speaking your language..."
Scheiß Tag.

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